Montag, 25. Juli 2011

Wie man anfängt

    Das ist gar nicht leicht. Die Bilder schieben sich voreinander, durchsichtige Bilder, rasch, wie beim Kartenmischen. Und dann kommt der erste Satz. Ein Bild bleibt stehen und sagt: Lies mich. Und dann geht es schon leichter voran mit den Sätzen. Und alle Sätze drehen sich um das Große S.

  Heute war ich da, in Stuttgart, kurz. Bin im Hauptbahnhof umgestiegen nach Ludwigsburg. Ab 9:00 in der Filmakademie zwei Texte für einen Doku-Film einsprechen. Ging relativ flott. Die beiden Studentinnen wussten, was sie wollten und haben sehr nett geführt und korrigiert. Zwei mal Capuccino und eine Flasche Eiszeitwasser.

   Um 12 Uhr wieder am Bahnhof Ludwigsburg. Der Aufzug zu den Gleisen 2 - 5 ist defekt. Wie machen das Kinderwagenmütter und Rollifahrer? Zurück nach Stuttgart. Es scheint immerfort bergab zu gehen. Die modernen Doppelstockwagen der Regiozüge gleiten wie auf Kufen. Und die Gleise sind anders gebettet, anders verschweißt. Nichts schlägt mehr.

   Seit den öffentlichen Schlichtungsgesprächen wissen die Leute, was ein mehrstöckiger Kopfbahnhof ist und was ein Überwerfungsbauwerk. Der mitreisende Kollege sagt »Ah, das sind jetzt also diese, diese, wie heißen die Dinger?«
  »Überwerfungsbauwerke.«
  »Ah, ja, Überwerfungsbauwerke.«
  »Die machen ja den Kopfbahnhof so stark« sage ich.
  »Wird man bald nicht mehr brauchen, aber ob ich S21 noch erleben werde?«
  »Wer weiß.«

   Dann halte ich lieber meinen Schnabel und genieße die stete Gleitfahrt aus dem Tunnel über die drunterweg in Richtung Cannstatt und zu den Prellböcken der Abstellharfe führenden Gleise. Weiches Eingleiten auf Gleis 8. Die rote E-Lok-146 hält sanft und steht knapp vor den Prellbockpuffern. Der Lokführer steigt soeben aus, wir aber müssen uns beeilen. Der Regionalexpress Richtung Tübingen steht auf Gleis 2 und will gleich los. Er fährt, kaum dass wir sitzen. Die Nordflanke des Bahnhofs fehlt schon. Die haben sie bereits amputiert. Irritiert löse ich meinen Blick. Ich war nie da seit vergangenem Sommer, wollte nichts sehen von der Zerstörung. Mein Hauptbahnhof war nie einer zum Durchgucken, mit Zugluft sozusagen. Er war wie eine Garage, Ankunft, Basisstation und Neuorientierung in einem.

   Bei der übergeworfenen Gleisführung geht es nun unten durch, diagonal zum Gleisfeld. Diese Querung  soll angeblich das ganze Gleisfeld blockieren. Sagen die Planeure, die hier ihre Handelspaläste erbauen wollen. Neben uns fahren aber andere Züge ein und aus, unbehindert, zügig, nach Norden, nach Süden und Westen, und schließlich geht´s dem Park entlang. Früher, als der Tübinger Eilzug aus Gleis 16 ausgefahren ist, sah man den ganzen Stuttgarter Osten vorüberziehen. Mein früheres Leben im Schnelldurchlauf. Nur ein Teil zwar vom Großen S, aber mein wichtigster, ein Filmstreifen, wie ein Pflaster auf der Haut, das beim Abreißen wehtut. Ich sah die alte Musikhochschule über dem Wagenburgtunnel, die Wulle-Brauerei, den Kernerplatz und den Turm von St. Nikolaus in der Werastraße, unten das Café im See, Neckartor, Stöckach, versteckt hinter dem Funkhaus des SDR, das Berg, die Gaisburger Kirche, und dann huiiii, rein in den Tunnel. 

Zwischa Schtuagert ond Cannschtatt, do schtoht a Tunnell,
Wemmr neifährt werds donkel, wemmr nausfährt werds hell.

   Dann der Austritt aus dem Tunnel, der ratternde Stich über den Neckar, die Stahlträger reflektieren das Fahrgeräusch. Links die Wilhelma, rechts der Wasen, und über uns das Rosensteinmuseum. Parallel zur Bahnbrücke, etwas tiefer die Brückenverbindung zwischen Stuttgart und Cannstatt. Ach, wie oft habe ich Modellbaupläne studiert und Anlagenbilder betrachtet, auf denen die Tunnelröhre nicht ebenerdig, sondern in der zweiten oder gar dritten Etage den Zug freigibt, der dann sofort über eine Brücke oder auf einer Rampe fährt und erst später sich wieder in die Ebene schmiegt. Quer zum Cannstatter Tunnelmund die Schlingen der Straßenführungen, der Abzweigungen, der Kehren und der kurvigen Stadtbahnlinien. Ein grandioses System von Stadtbaukunst. Eine Modelllandschaft, die man so nicht erfinden kann, die der Topographie folgt und sie nicht  der Planung unterwirft. Ein System von Lebensadern, von dem man abguckt und lernt. Und das man auch kaputt machen kann, wie Kinder, die ihre Sandkastenburgen einebnen. Das wollen sie im Großen S bald tun, diese Bahnspezialisten. Ihr Chef heißt sinnigerweise Grube. Mein Hauptbahnhof wird kastriert.

   Ich bin froh, bald wieder zuhause zu sein, obwohl mich früher jeder Kilometer einsilbiger machte, der mich weiter weg vom Großen S führte.

  Die Zeitspannen zwischen Cannstatt und Esslingen, bis Plochingen, Wendlingen und Nürtingen habe ich noch in den Nerven. Wie früher. Auch die Etappen nach Tübingen, aber das sind andere Geschichten. Ich fahre auf der Hauptschlagader zwischen dem Großen S und der südlichen Region. Rauswärts. Neckar aufwärts. Das brachte mir schon früher diese kleine Melancholie des Weggehens, die aber zusammenbrach, sobald ich auf dem Heimatbahnsteig stand. Reinwärts war die Fahrt getragen von linder Erwartung, nicht immer, aber viele Male, seit meiner Kindheit, als es noch dampfte beim Zugfahren. Es gab auch andere Fahrten, voller Sorge, was mich gleich erwarten würde. Und alle weiß ich noch. Und ich schreibe sie alle auf, schön der Reihe nach, oder so, wie sie mir gerade einfallen. Einfallen tun sie mir alle, denn sie sind da, laufen durch, Blitzrevue hinter meiner Stirn, und ich muss sie nur anhalten, um jedes einzelne zu betrachten und abzuschreiben.

   Bald gibt´s auf diesen Bahnfahrten nichts mehr zu wissen. Und nichts mehr zu sehen. Nicht mehr Dick und Quist, die Esslinger Kamine, nicht mehr den Mercedes-Stern über der Daimler-Stadt, und nicht mehr, hinter Plochingen, Wernau zu, die wunderschöne Streckentrennung der Doppelgleise nach Ulm und der nach Tübingen, mit der Stahlbogenbrücke über der Fils und dem Ablaufberg des Plochinger Verschiebebahnhofs. Wenn S21 kommen sollte, biegt man dann in Wendlingen links ab, verschwindet für lang in der Tunnelröhre, röhrt unterm Flughafen durch und in künstlichen Tunnelschleifen in den S-Tiefbahnhof. Und wenn´s wieder hell ist, sieht man immer noch nichts außer Kunstlicht, soll aber in Stuttgart sein. Schneller als vorher, aber ohne dass man was gesehen hat. Beaming statt Dreaming. Und wie finde ich das? Scheiße. Ganz einfach Scheiße.